Workshopbericht

„Occidentalism & Cinema“

Der Tagungsbericht ist auch auf H-Soz-Kult erschienen: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8906

Der im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Ästhetik des Okzidentalismus. Yücel Çakmaklıs islamisch-turkistisches Millî Sinema („Nationales Kino“) (1964-2006) durchgeführte digitale Workshop Occidentalism & Cinema: East-West Dialectics in Audiovisual Culture hat vom 26. bis 27. November 2020 am Institut für Medienwissenschaft der Philipps-Universität Marburg stattgefunden.

v.l.n.r.: Dr. Simone Pfeifer, Dr. Robert Dörre und Dr. Deniz Güneş Yardımcı

In dem Workshop haben Forscher_innen aus Deutschland und der Türkei die diskursanalytischen Ansätze des Okzidentalismus aus medienästhetischer Perspektive diskutiert und damit einen wichtigen Beitrag zum Verhältnis zwischen (Okzidentalismus-)Diskurs und Ästhetik geleistet. Ausgehend von dem Forschungsinteresse des Projekts, medienästhetische Eigenqualitäten auf ihr Beitragspotential zur Konstituierung okzidentalistischer Diskurse zu untersuchen, haben die Forscher_innen über das dichotomische Verhältnis von Orient und Okzident und den Zusammenhang von konservativen Politiken und islamisch-orientierten Medienkulturen sowie etwaiger anderer Diskursdynamiken reflektiert. Die medienästhetischen Analysen der Forscher_innen, die jeweils aus unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven die Orient-Okzident-Debatte geprägt haben, sind der Frage nachgegangen, wie die filmischen Bilder bei der Herstellung von solchen konservativen Politiken aktiv sind. An dem zweitägigen Workshop haben Dr. Ömer Alkin (Projektleiter des Forschungsprojektes „Aesthetics of Occidentalism“), Prof. Dr. Savaş Arslan aus der Bahçeşehir University, Istanbul, Prof. Dr. Dilek Kaya von der Yaşar University, Izmir, Dr. Simone Pfeifer und Dr. Robert Dörre von der Johannes Gutenberg Universität Mainz, Dr. Deniz Güneş Yardımcı von der Bilgi University, Istanbul, Dr. Ayşe Çavdar von der Philipps-Universität Marburg und M.A. Aysel Özdilek von der Universität Hamburg teilgenommen. Die Vorträge kreisten um Themen wie den Begründer eines islamisch-konservativen Regisseurs, Yücel Çakmaklı, das türkische Kino, Migrationskino und dschihadistische Videostrategien.

v.l.n.r.: Dr. Ayşe Çavdar, Prof. Dr. Savaş Arslan und Dr. Ömer Alkın

Der erste Tag des Workshops wurde mit dem Einführungsvortrag von Dr. Ömer Alkin eröffnet. Mit einem Diskurs über die unterschiedlichen Konzeptionen des Okzidentalismus legte Alkin den theoretisch-diskursiven Rahmen des Konzepts des Okzidentalismus fest. Beschrieben und diskutiert wurden dabei unterschiedliche theoretische Ansätze. In Anlehnung an Edward Said, Michel Foucault, Ian Buruma, Avishai Margalit, Fernando Coronil und Meltem Ahıska beschäftigte sich Alkin mit den Fremd- und Selbstkonstruktionen, Diskursstrategien, Repräsentationspraktiken und Diskursdynamiken des dichotomischen geopolitischen Kontexts von Westen und Nicht-Westen.

v.l.n.r.: Aysel Özdilek MA., Prof. Dr. Dilek Kaya und Prof. Dr. Malte Hagener

Im Anschluss an die Einführung hielt Prof. Dr. Savaş Arslan einen Vortrag zum Thema From Drama to Melodrama: The Turkish-Western Dialectics in Yeşilçam Cinema, in dem er sich mit der historischen Entwicklung des islamisch-konservativen Kinos der Türkei beschäftigte. Dabei legte Arslan den Fokus auf die Filmkultur von Yücel Çakmaklı, dem Begründer eines islamisch-konservativen Kinos der Türkei. Hierfür stellte Arslan einen 13-minütigen Ausschnitt aus einem Videointerview mit Çakmaklı vor, in dem er Çakmaklı zu dessen islamisch-turkistischer Filmprogrammatik eines Millî Sinema („Nationalen Kinos“) befragte. Die populäre Yeşilçam Filmkultur der Türkei wurde sowohl formal-ästhetisch als auch hinsichtlich ihrer narrativen Eigenschaften als „Referenzkino“ für die unterschiedlichen politischen Filmprogramme der Türkei erörtert.

Ausschnitt aus der Einführungspräsentation von Dr. Ömer Alkin

In ihrem Vortrag Heroes trapped in their fairy tales: Landscape of insatiable spirits in Memleketim (1975, TR) beschäftigte sich Dr. Ayşe Çavdar ausgehend von ihrer Dissertation mit der Entwicklung des politischen Islamismus in der Türkei. Dabei wurde der Islamismus nicht nur als politische und hegemoniale Inanspruchnahme der Muslime beschrieben, sondern als eine effektive Ideologie, die als Hegemonialisierung der kollektiven Affekte und Emotionen der Muslime instrumentalisiert wird. Anhand ihrer vergleichenden Filmanalyse aus dem reichen Fundus des populären Kinos der Türkei (Yeşilçam) und literarischen Beispielen identifizierte Çavdar narrative Strategien und Archetypen, die mit der symbolischen Sprache und Rhetorik der in der Türkei herrschenden AKP-Regierung in Beziehung gesetzt wurden.

Den dritten Beitrag des ersten Tages lieferte Prof. Dilek Kaya. In ihrem Vortrag Crossroads (1970,TR): Islamicizing Modernity, Cinema and Melodrama verhandelte Kaya anhand des ersten Spielfilms „Birleşen Yollar“ (TR, 1970) von Yücel Çakmaklı die diskursiven Strategien des Films vor dem Hintergrund der Modernisierungsgeschichte und Entstehung des islamischen Kinos der Türkei. Dabei stellte Kaya fest, dass auch in diesem Film die narrativen Konventionen des Yeşilçam-Melodramas adaptiert wurden. Im Vergleich zu den Melodramen des Yeşilçam-Kinos der 1970er Jahre wurde im Vortrag die diskursive Konstruktion der türkischen Modernisierung im Film von Çakmaklı als ein Appell für eine islamische Lebensweise beschrieben. Die Übernahme populärer narrativer Strategien auf der einen Seite und eine Formulierung der Modernisierung als Islamisierung auf der anderen Seite fasste Kaya als „Neukonfiguration und Islamisierung des Mainstreams“ zusammen, die eine Gegenreaktion auf die Hegemonie der säkularen Ideologie der Zeit interpretiert wurde.

Ausschnitt aus der Präsentation Crossroads (1970,TR): Islamicizing Modernity, Cinema and Melodrama von Prof. Dr. Dilek Kaya

Der erste Tag des Workshops endete mit dem Vortrag von Aysel Özdilek (M.A) zum Thema Body Politics and National Identity: Women’s Fashion in Yeşilçam. In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der Biopolitik und Judith Butler’s Konzept der Gender-Performativität verhandelte Özdilek die Verwicklung und den Zusammenhang von Körper, Mode, Politik und patriarchalische Ideologie. Am Beispiel von populären Yeşilçam-Filmen der 1960er und 1970er Jahre machte Özdilek deutlich, dass Kostüm und Mode unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen aufweisen. Sie funktionieren unter anderem als symbolische Metapher für die soziale Klassenzugehörigkeit, Habitus, Selbstoptimierung oder „Technologien des Selbst“ der Filmcharaktere.

Der zweite Tag des Workshops begann mit einem Vortrag von Dr. Ömer Alkin. In seinem Beitrag zum Thema Media Aesthetics of Occidentalism untersuchte Alkin u.a. in Anlehnung an Meltem Ahıskas Konzept des „kritischen Okzidentalismus“ symbolische und visuelle Bedeutungskonstruktionen im Yeşilçam-Kino. Die Analyse von Zeit- und Raumkonstruktionen im Film „Memleketim“ (Yücel Çakmaklı, TR, 1974) wurde am Beispiel einer ausgewählten Filmszene auf die Zug-Metapher von Ahıska bezogen und mit dem Verwestlichungswunsch der Türkei auf der einen Seite und dem ständigen Verfehlen von Modernität auf der anderen Seite gedeutet. Die Frage nach der Spezifität visueller Konstruktionen „sozialer Wirklichkeit“ und ihrer Untersuchung aus einem medienästhetischen Verständnis heraus und aus der Perspektive der Visuellen Kultur (Mitchell 2015) standen im Fokus des Vortrages.

Ein weiterer interessanter Vortrag mit dem Titel The West Behind the Mask – On the Aesthetics of Othering in Jihadi Videos wurde von Dr. Simone Pfeifer und Dr. Robert Dörre gehalten. Die visuellen und narrativen Merkmale des dschihadistischen Videos „Fitrah: The West Behind the Mask“ wurden im Zusammenhang mit dem Konzept des Othering von Gayatri C. Spivak analysiert. Neben der Herausarbeitung der „Ästhetiken und Dimensionen des Othering“ beschäftigten sich die Forscher_innen mit einer detaillierten Analyse der Social Media-Strategien, mit denen das dschihadistische Video an die Öffentlichkeit gebracht wurde.

Ausschnitt aus der Präsentation The West Behind the Mask – On the Aesthetics of Othering von Dr. Simone Pfeifer und Dr. Robert Dörre

Den letzten Vortrag des Workshops hielt Dr. Deniz Güneş Yardımcı. Der Vortrag von Yardımcı mit dem Titel Post-Migration Cinema: Transnational Aesthetics, Transnational Identities beschäftigte sich mit der Ost-West-Dialektik im postmigrantischen Kino. Dabei legte sie den Fokus auf die Konzeptualisierung, Historisierung und Ästhetiken des (deutsch-türkischen) migrantischen sowie postmigrantischen Kinos.

In der Abschlussdiskussion des Workshops wurden die vergangenen Tage und Vorträge intensiv diskutiert. Die Diskussion, in der sich die Forscher_innen mit den bestehenden binären Kategorien und ihrer Reproduktionen (Ost-West) kritisch auseinandersetzten, kreisten um Themen wie hegemonial/diskursive und ästhetische Analysekategorien, die Notwendigkeit ihrer Umgehung, aber zugleich auch ihrer Unumgehbarkeit sowie der politischen Folgen jener Auseinandersetzungen aufgrund ihrer permanenten Reproduktion. Mit diesen Kategorien wurden so Möglichkeiten und Grenzen der Dekonstruktion von dichotomischen Konzeptionen diskutiert. Mit Mouffes und Laclaus Theorie der „Signifikation“ deutete Alkin auf die ideologische Gefahr jener repräsentationslogischen Kategorien wie West, Ost, Orient, Okzident hin: Mit zunehmender diskursiver Beschäftigung bestünde eine Gefahr darin, die bezeichneten Meta-Kategorien soweit zu signifizieren, dass daraus ein Teufelskreis aus symbolischer Nullwertigkeit (leere Signifikanten) entstehen und der so die Konzepte zu unumgänglichen Hyperkategorien samt ihrer Umkehrbarkeit und Polysemie produzieren würde.

Der Versuch, die nicht nur im wissenschaftlichen, sondern ebenfalls im global gesellschaftlichen Diskurs reproduzierten Repräsentationskategorien mithilfe ästhetischer Analysekategorien zu überwinden und jenseits geographischer Abgrenzungen zu denken, eröffnete neue Perspektiven und Forschungsfragen im Feld der Medienästhetik sowie der hegemonial-ideologischen Ansätze. Die Beiträge der Forscher_innen aus unterschiedlichen Disziplinen haben die Konzeption und Dimensionen des Okzidentalismus mit besonderem Fokus auf audiovisueller Kultur, Mediennutzungspraxis, Medienästhetik und Körper-Diskurse diskutiert. Damit lieferte der Workshop Occidentalism & Cinema: East-West Dialectics in Audiovisual Culture einen wichtigen Beitrag zur Perspektivverschiebung in der Debatte um Okzidentalismus und audiovisuelle Kultur.

© Hayriye Kapusuz, 16. Februar 2021